AG Bad Hersfeld, 01.12.2017 - 63 F 621/17 SO16.07.2018

Wird die Schulpflicht nachhaltig verletzt, ohne dass die Eltern hierzu gewillt oder in der Lage sind, dem wirksam zu begegnen, liegt ein Fall der Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 Abs. 1 BGB vor.

Leitsatz:
1.
Wird die Schulpflicht nachhaltig verletzt, ohne dass die Eltern hierzu gewillt oder in der Lage sind, dem wirksam zu begegnen, liegt ein Fall der Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 Abs. 1 BGB vor.
2.
Das Familiengericht wird von Amts wegen tätig, wenn ihm durch Dritte ein hinreichend verdichteter Verdacht hinsichtlich einer Kindeswohlgefahr (hier: Verletzung der Schulpflicht) angezeigt wird.
3.
Familiengerichte und Jugendämter tragen nach dem gesetzgeberischen Auftrag aus § 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB, §§ 151 ff. FamFG und § 50 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 SGB VIII im Wege des familiengerichtlichen Verfahrens Sorge dafür, dass im Sinne des Kindeswohls der Schulbesuch durch schulpflichtige Kinder sichergestellt wird.
4.
Zur Wahl der nach § 1666 BGB erforderlichen familiengerichtlichen Maßnahmen bei Schulabsentismus ist insbesondere das Ausmaß der Schulverweigerung oder der fehlenden schulischen Partizipation des Kindes festzustellen, die Ursachen sind herauszuarbeiten und das Vorhandensein noch erzieherischer Möglichkeiten durch die Eltern selbst ist abzuschätzen.
5.
Als familiengerichtliche Maßnahme kommt unter notwendigen Umständen auch der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Rechts zur Regelung von schulischen Angelegenheiten in Betracht. Ein Ergänzungspfleger kann ermächtigt werden, die Herausgabe des Kindes zu Schulbesuchen zu erzwingen, dies nötigenfalls unter Zuhilfenahme eines Gerichtsvollziehers bzw. der Polizei.
Tenor:
Das Recht der Sorge in schulischen Angelegenheiten für die Kinder

M. A., geb. --.--.2000,

und J. A., geb. --.--.2003,

sowie das Aufenthalts-bestimmungsrecht über die Kinder an hessischen Schultagen inder jeweiligen Schulzeit zzgl. notwendiger Fahrzeit wird der Kindesmutter entzogen und dem Jugendamt in E. als Ergänzungspfleger übertragen.

Dem Ergänzungspfleger wird aufgegeben, an Schultagen die Anwesenheit beider Kinder in ihrer jeweiligen Schule während der gesamten Schulzeit sicherzustellen.

Eventuell an einem Schultag einmal entgegenstehende gesundheitliche Gründe bei einem Kind sind zu berücksichtigen, soweit diese durch ein ärztliches Attest bestätigt werden, welches die Art der Erkrankung und die voraussichtliche Dauer exakt benennt und welches von der Kindesmutter in jedem einzelnen Fall unmittelbar noch am selben Tage einzuholen und dem Ergänzungspfleger vorzulegen ist.

Es wird angeordnet, dass die Kinder jeweils an den Ergänzungspfleger herauszugeben sind, soweit sie zu den einschlägigen Schulzeiten nicht von selbst in ihrer jeweiligen Schule erscheinen oder verbleiben.

Diese Anordnung ist gegenüber der Kindesmutter wie auch jeder anderen Gewahrsams-person, bei welcher das Kind sich gerade aufhält, gegenüber wirksam.

Diese Anordnung ist bei der Herausgabe-Wegnahme des Kindes - ohne vorherige Benachrichtigung - vorzulegen.

Kommt die betreffende Gewahrsamsperson der Anordnung nicht nach, darf der Ergänzungspfleger die Hilfe des Gerichtsvollziehers in Anspruch nehmen.

Der Gerichtsvollzieher wird beauftragt, das Kind dem Ergänzungspfleger zuzuführen, damit dieser sodann den Schulbesuch des Kindes wie vorgenannt sicherstellen kann.

Der Gerichtsvollzieher bzw. Vollstreckungsbeamte bei dem zuständigen Amtsgericht wird durch diesen Beschluss ausdrücklich gem. § 90 Abs. 1 FamFG ermächtigt, bei der Wegnahme - falls erforderlich - unmittelbaren Zwang anzuwenden, und zwar - falls erforderlich - auch gegen das Kind, § 90 Abs. 2 S. 2 FamFG. Er ist in den Fällen auch befugt, um eine Unterstützung der polizeilichen Vollzugsorgane nachzusuchen.

Gemäß § 91 FamFG wird der Gerichtsvollzieher bzw. Vollstreckungsbeamte des Weiteren befugt, in Ausführung des Vollzugs dieser Anordnung die Wohnung und die Behältnisse der Kindesmutter oder anderer Personen, bei denen sich das Kind aufhält, zu durchsuchen, soweit der Zweck der Vollziehung dies erfordert. Er darf verschlossene Haustüren, Zimmertüren und Behältnisse gewaltsam öffnen lassen.

Der Gerichtsvollzieher bzw. Vollstreckungsbeamte darf außerdem Sachen, die für den persönlichen Bedarf des Kindes während der Schulzeit dringend benötigt werden, auch gegen den Willen der herausgabepflichtigen Person wegnehmen.

Auch insoweit ist diese Anordnung bei der Herausgabe-Wegnahme des Kindes - ohne vorherige Benachrichtigung - vorzulegen.

Dem Jugendamt wird aufgegeben, dem Familiengericht bis zum 17.1.2018 zum weiteren Stand und der Entwicklung im Familiensystem, insbesondere zum Stand der Einhaltung der Schulpflicht bei beiden Kindern und zur möglichen Veränderung der Beschulung bei dem Kind M. zu berichten.

Die Kosten des Verfahrens hat die Kindesmutter zu tragen.

Der Verfahrenswert wird auf 3.000 € festgesetzt.